Der Berufsverband der der Kinder- und Jugendärzte e.V. gibt die Empfehlung „kein Bildschirm für Kinder unter 3 Jahren“. So ganz strikt ist dies heutzutage kaum umzusetzen – ein Video-Telefonat mit den Großeltern, ein Bagger-Video zum Haareschneiden oder Corona-bedingt die Tanzstunde im Online-Format. Dr. med. Özgür Dogan beantwortet im Interview warum man trotzdem darauf achten sollte die Screentime für Kleinkinder strikt zu reglementieren und wie das gelingt.
- Warum gibt es die Empfehlung „Kein Bildschirm vor 3 Jahren“?
- In welchen Situationen sollte die Screentime bzw. Mediennutzung unter allen Umständen vermieden werden und warum?
- Welche Tipps haben Sie für den praktischen Alltag?
- Die Reglementierung der Mediennutzung, sprich, wenn nach dem Haareschneiden das Bagger-Video wieder abgestellt wird, führt oft zu Wutausbrüchen und Forderungen nach mehr bei den Kleinen. Warum lohnt es sich trotzdem? Und welche Tipps haben Sie aus eigener Erfahrung?
- Was sind Ihre Empfehlungen für die Gestaltung eines aktiven (medienarmen) Alltags?
- Lesetipp
Warum gibt es die Empfehlung „Kein Bildschirm vor 3 Jahren“?
Es ist faszinierend, ein Kind dabei zu beobachten, wie es mit Tierfiguren spielt, mit Bauklötzen experimentiert oder sich ein Bilderbuch anschaut. Die Mimik, die Gestik, die Laute, die gesamte Körpersprache vermitteln vage, was gerade in seinem Kopf vorgeht. Die Plastizität des Gehirns kann man förmlich spüren. Wird der Bildschirm eingeschaltet, wirkt das Kind in dem Moment wie hypnotisiert – geradezu paralysiert. Man hat das Gefühl, im Gehirn passiert nicht mehr viel. Aus komplexem Entdecken und Kombinieren wird stupides Schauen.
In welchen Situationen sollte die Screentime bzw. Mediennutzung unter allen Umständen vermieden werden und warum?
Medien sollten nicht eingesetzt werden, wenn es um Situationen geht, die immer wiederkehrend sind und grundsätzlich der Erfüllung natürlicher Bedürfnisse dienen. Essen sollte ein Kind zum Beispiel, weil es Hunger hat. Die ganze Familie sitzt am Esstisch, alle essen gemeinsam und das Kind darf selbstständig wie die Großen handeln. Die Eltern entscheiden, was es zu essen gibt, das Kind entscheidet, wieviel es essen möchte. Die Mahlzeit sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern. Man braucht das Kind nicht ablenken, damit es seine Grundbedürfnisse stillt. Gleiches Prinzip gilt auch für den Schlaf. Es ist doch so viel schöner, wenn man sein eigenes Ritual gefunden hat, das die Kleinen auf das Schlafen vorbereitet, als dass man sie vor dem Bildschirm abstellt.
Welche Tipps haben Sie für den praktischen Alltag?
Wenn ein Kind unter 3 Jahren keine Medien kennenlernt, muss man auch nicht großartig streiten, ob es sie nutzen darf. Einem Kind kann man nicht erklären, dass Bildschirme nichts für Kleine sind. Man muss es vorleben. Während das Kind anwesend ist, sollte der Fernseher ausgeschaltet und das Mobiltelefon außer Reichweite sein. Sind die Kleinen im Bett, kann man sich etwas Bildschirmzeit gönnen. Die Zeit ist viel zu kurz und nicht selten trauern Eltern später der viel zu schnell vergangenen Zeit mit den Kleinsten hinterher.
Die Reglementierung der Mediennutzung, sprich, wenn nach dem Haareschneiden das Bagger-Video wieder abgestellt wird, führt oft zu Wutausbrüchen und Forderungen nach mehr bei den Kleinen. Warum lohnt es sich trotzdem? Und welche Tipps haben Sie aus eigener Erfahrung?
Wenn man sich nicht anders zu helfen weiß, als in Ausnahmesituationen Medien zu Hilfe zu nehmen, müssen die Regeln klar kommuniziert werden. Medien sollten nicht als Belohnung oder als Bestrafung eingesetzt werden. Ein liebevoll konsequentes Vorgehen sollte berücksichtigen, dass das Kind durch Wutausbrüche oder Forderungen weder Macht auf die Eltern ausüben kann noch sollte eine Situation entstehen, in der das Kind sich erniedrigt fühlt.
Was sind Ihre Empfehlungen für die Gestaltung eines aktiven (medienarmen) Alltags?
Eine abwechslungsreiche Mischung aus Bücher lesen, Kreatives tun, Höhlen bauen und in Decken einkuscheln ergänzt mit immer wieder Möglichkeiten bieten, sich selbst zu beschäftigen, hat bei uns bislang noch keine Medien notwendig gemacht. Und wenn einem gar nichts mehr einfällt, geht man einfach raus. Da ergibt sich in der Regel auch ohne große Planung immer ein kleines Abenteuer.
Dr. med. Özgür Dogan
ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Stuttgart
Vita:
1983 – 2009 Geburt bis Studium in Frankfurt/Main
2009 – 2017 Kinderarzt im Olgahospital Stuttgart
- 2014 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
- 2018 Zusatzbezeichnung Kinder-Gastroenterologie
- 2018 Zertifikat Reisemedizinische Gesundheitsberatung
seit 2019 Kinder- und Jugendpraxis Dogan
Ehrenamtliche Tätigkeit für German Doctors e. V.
Mitgliedschaften
- DGKJ – Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V.
- BVKJ – Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V.
- DGSPJ – Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V.
- PädnetzS – Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen
- GPGE – Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e. V.
Bild von andrii Sinenkyi auf Pixabay