Als Schreikinder oder -babys werden ca. 20% der Neugeborenen bezeichnet. Ausschlaggebend ist hier die so genannte „Dreier-Regel“. Diese Bezeichnung steht für das Schreien von mindestens drei Stunden an mehr als drei Tagen pro Woche über einen Zeitraum von drei Wochen hinweg. Vor allem das schrille Schreien (auch „exzessives“ Schreien genannt) zerrt in dieser Zeit an den Nerven der Eltern. Unsere Expertin Diane Gerne erklärt uns im Interview, was die Gründe dafür sein können und gibt Tipps für betroffene Eltern.
- Woher weiß ich, dass mein Kind ein Schreikind ist?
- Sind es vielleicht nur Drei-Monats-Koliken, die mein Schreikind quälen?
- Kann ich mein Kind einfach schreien lassen?
- Bin ich schuld, dass mein Kind so viel schreit oder bin ich eine „schlechte“ Mutter?
- Wie kann ich mit dem Schlafmangel durch Schreikinder umgehen?
- Was kann ich tun, wenn ich mein Kind nur noch schütteln will?
- Wie kann ich Schreikinder beruhigen? Gibt es Regeln, an die ich mich halten kann?
- Mehr Tipps & Tricks zum Thema Schreikinder
Woher weiß ich, dass mein Kind ein Schreikind ist?
In den Lehrbüchern findet man eine Definition nach Wessel („Dreier- Regel“). Aber Eltern fragen sich, schreit mein Kind wirklich so viel, sind es die „Koliken“ oder sogar sogenannte Regulationsstörungen? Eigentlich ist das egal.
Schreit ein Baby langanhaltend und schrill, löst das Stressreaktionen im Organismus der Eltern aus. Lässt Schweiß auf der Stirn stehen und macht nach einer subjektiv gefühlt unendlichen Dauer mutlos, kraftlos, erschöpft und nicht selten auch aggressiv.
Sind es vielleicht nur Drei-Monats-Koliken, die mein Schreikind quälen?
Manchmal ist das Darmsystem eines Säuglings nach der Geburt noch recht unreif und die Verdauung muss erst richtig in Gang kommen. Dies ist z.B. bei Frühgeburten oder sehr zarten Kindern häufiger der Fall.
Es kann vorkommen, dass Blähungen das Kind plagen und es dadurch auch häufiger weint. In der Summe weint das Kind allerdings nicht hauptsächlich wegen der Koliken, sondern um zu signalisieren, dass es jetzt müde ist und verschiedene Erlebnisse des Tages verarbeiten muss. Vorausgesetzt die Grundbedürfnisse nach Nahrung, sauberer Windel etc. sind erfüllt.
Man sollte immer bedenken, dass Weinen das einzige Kommunikationsmittel eines Säuglings ist. Dadurch gelangt jedoch immer wieder viel Luft in seinen Körper, was wiederum zu zusätzlichen Koliken führen kann. Ein Kreislauf beginnt.
Kann ich mein Kind einfach schreien lassen?
Wenn ein Kind langanhaltend schreit, ist das ein Zeichen, dass es sich mitteilen möchte, Bedürfnisse hat oder etwas verarbeiten muss. Es ist immer gut und richtig, zuerst zu prüfen, ob das Baby Hunger hat, eine frische Windel braucht, schwitzt oder friert.
Vielleicht fühlt es sich aber auch unsicher. Hier kann die liebevolle und ruhige Stimme der Eltern Sicherheit vermitteln. Auch das Tragen und Halten eng am Körper oder Einpucken (festes Einwickeln in eine Decke) kann das Kind beruhigen.
Nicht immer hören die Babys dann auf zu weinen. Oft kommen psychische Belastungen dazu, z.B. nach einer schwierigen Geburt, (Not-)Kaiserschnitt, Saugglocke oder langen Wehen. In diesen Momenten brauchen die Kinder hauptsächlich das Gefühl, dass sie angenommen werden und alles um sie herum gut und sicher ist.
Abstellen auf Knopfdruck kann man das Weinen leider nicht, auch wenn die meisten Eltern sich das wünschen würden. Das Befinden des Kindes annehmen und akzeptieren ist ein erster guter Schritt in die richtige Richtung.
Bin ich schuld, dass mein Kind so viel schreit oder bin ich eine „schlechte“ Mutter?
Grundsätzlich kann ich darauf ganz klar mit „nein“ antworten. Niemand ist schuld, wenn sein Kind untröstlich weint. Und das Kind lehnt die Mutter durch das Weinen auch nicht ab, selbst wenn sein kleiner Körper sich wegstreckt. Wie gesagt, das Weinen kann viele Ursachen haben und ist die einzige Möglichkeit, sich mitzuteilen.
Eltern, die sich in dieser neuen Situation befinden, möchten allerdings immer sehr gerne, dass alles ganz harmonisch verläuft. Die Medien, Zeitschriften und vor allem Berichte im Internet gaukeln den frisch gebackenen Eltern diesen Idealfall oft vor, deshalb trifft sie die Realität doppelt hart. Man denkt zwangsläufig „ich muss doch was falsch machen“, wird unsicher und verliert das eigene Bauchgefühl. Aber gerade das Hören darauf ist das allerwichtigste in der Erziehung und im Umgang mit den Kindern.
Ist die Mutter unsicher, überträgt sich das auf das Kind. Es fühlt sich dann selber unsicher, weiß nicht mehr, was los ist und wo und wie es Sicherheit erlangen kann. Das Ergebnis: es weint umso mehr. Auch das Gefühl, das Weinen „schnell abstellen zu müssen“, damit das Baby und man selbst glücklich sein kann, führt geradewegs in eine Falle. Viele und hektische Beruhigungsversuche verschlimmern die Situation immer mehr.
Eine ruhige feste Stimme, das Annehmen des Kindes mit seinen Befindlichkeiten, das Halten und Aushalten der Situation ist sehr schwer, ganz gewiss, führt aber langfristig schneller zum Erfolg. Dafür muss ich selbst allerdings auch gestärkt sein. Ein Zustand, der bei andauernden Schreiattacken nur selten erreicht wird.
Wie kann ich mit dem Schlafmangel durch Schreikinder umgehen?
Schlafmangel bei den Eltern und vor allem bei Müttern, die auch stillen, ist im ersten Lebensjahr eines der größten Probleme. Er führt zu Erschöpfung, Unsicherheit und wenig Belastbarkeit in schwierigen Situationen. Manchmal auch geradewegs in eine Depression.
Säuglinge schlafen nicht bilderbuchmäßig 20 Stunden am Tag. Sie haben Hunger, sind unruhig, brauchen viel Nähe und werden in der Nacht anfangs mindestens drei- bis viermal wach. Hier ist es sinnvoll, sich als Paar eine Strategie zu überlegen, wer z.B. wann zuständig ist und aufsteht.
Alleinerziehende besonders, aber auch Paare sollten sich überlegen, welche Ressourcen sie haben und wer eventuell tagsüber unterstützen kann. So kann am Tag dringend notwendiger Schlaf nachgeholt werden. Hier kommen Geschwister, Großeltern, Tanten, Freunde usw. in Frage.
Manchmal muss man einfach den Mut haben, auf die Menschen zuzugehen. Es gibt ehrenamtliche Dienste, wie z.B. die Familienpaten vom Kinder-schutzbund oder Wellcome. Auch der Kinderarzt informiert über die „Frühen Hilfen“ oder private Anbieter der Elternberatung.
Was kann ich tun, wenn ich mein Kind nur noch schütteln will?
Es ist zuerst einmal sehr positiv, wenn man sich dieser Situation bewusst wird. Spürt man diesen Impuls, ist höchste Achtsamkeit geboten, denn der Schritt zur Umsetzung ist nur klein. Daher im schlimmsten Fall das Kind einfach irgendwo sicher ablegen. Das kann eine Decke am Boden sein, das Kinder- oder Anstellbettchen, aber niemals das Sofa, Bett oder gar der Wickeltisch. Hier besteht eine akute Sturzgefahr.
Anschließend sollte man den Raum verlassen und mehrmals tief bis in den Bauch durchatmen. Vielleicht aus dem Fenster schauen und an was ganz anderes denken. Die Fokussierung auf das Schreien des Kindes muss gelöst werden.
Wenn weiter aggressive Impulse wahrgenommen werden, kann man einfach seine Wut und Frustration in ein Kissen schlagen. Anschließend noch mehrmals tief in den Bauch atmen, Schultern lockern und so gestärkt erneut auf das Kind zugehen. Es ist in jeden Fall besser, dass Kind eine Weile alleine weinen zu lassen, als dem Impuls des Schüttelns nachzugeben.
Wie kann ich Schreikinder beruhigen? Gibt es Regeln, an die ich mich halten kann?
Leider lässt sich das Weinen und Schreien eines Säuglings in der Regel nicht auf Knopfdruck ausstellen, es sei denn, es weint wegen Hunger oder Durst. Wichtig ist, das Kind in seiner Situation gefühlsmäßig anzunehmen und mit ruhiger, sicherer Stimme mit ihm zu sprechen. Eventuell die Hand auf seinen Bauch oder sein Köpfchen zu legen, bzw. die angespannten Beinchen zu erfassen, sofern es das annimmt. Es ist darauf zu achten, ob das Schreien mehr und schriller wird, wenn ein Beruhigungsversuch erfolgt, denn dann „sagt“ das Kind eindeutig, „das ist mir jetzt zu viel, lasst mich bitte einfach in Ruhe“.
Dieses Zeichen wird oft übersehen und es erfolgen immer mehr, zum Teil hektische Beruhigungsversuche, wie z.B. starkes Wippen auf dem Petziball, schnelles Hin- und Herschaukeln bis hin, dass das Kind vor die laufende Waschmaschine oder gar unter die Dunstabzugshaube gestellt wird. Diese Reize führen zwar häufiger zur Beruhigung, sind aber zu stark und das Geschrei geht wieder los, wenn der Reiz wegfällt.
Mein Tipp: Weniger ist mehr! Ruhe bewahren und ausstrahlen, selbst tief in den Bauch atmen und Schultern lockern. Beim Halten des Babys, eher mit der Aufmerksamkeit vom Kind weggehen, um eine innere Distanz zu gewinnen und sich von dem schrillen Geschrei nicht zu sehr in Stress bringen zulassen.
Das Baby kann auch auf dem Sofa oder der Krabbeldecke neben sich abgelegt werden, wenn es sich auf dem Arm windet und wegstreckt. Oft ist ihm in dieser Situation dann einfach alles zu viel. Alleine durch die Präsenz der Mutter und die beruhigende Stimme merkt es, dass es nicht alleine ist und verspürt Sicherheit.
Mehr Tipps & Tricks zum Thema Schreikinder
Zur individuellen Beratung findet ihr hier weitere Informationen oder schreibt direkt an Diane Gerner: beratungspraxisgerner@gmx.net
Ab Januar bietet Diane Gerner auf ihrer neuen Website oder direkt auf bob.family verschiedene Kurs-Angebote zum Thema Schreikinder an.
Schreikinder – Teil 2: Wann muss ich mir Hilfe holen und wo bekomme ich sie? Den zweiten Teil könnt ihr hier lesen.
Bilder: canva, unsplash, pexels