Das Kind stellt hochphilosophische Fragen, reagiert überempfindlich auf Lärm und Gerüche, ist sehr einfühlsam, aber auch schnell von äußeren Eindrücken überwältigt? All das können – müssen aber nicht – Anzeichen für Hochsensibilität sein. Wir erklären, was es damit auf sich hat.
Etwa 15 bis 20 Prozent aller Menschen sind hochsensibel, schätzt die amerikanische Psychologin Elaine Aron. Hochsensibilität ist keine Krankheit, keine Störung, sondern ein Charakterzug. Man könnte auch sagen, eine bestimmte Art, die Welt wahrzunehmen. Eine bemerkenswerte, aber oft übersehene Eigenschaft. Hochsensibilität kann für Eltern eine echte Herausforderung sein, aber sie birgt auch viel Potenzial.
In diesem Beitrag wollen wir beleuchten, was es bedeutet, ein hochsensibles Kind zu haben, und wie Eltern damit umgehen können.
Hochsensibilität bei Kindern – was verbirgt sich dahinter?
In den letzten Jahren ist das Thema Hochsensibilität bei Kindern vermehrt in den Fokus gerückt. Der Begriff selbst ist noch relativ jung. Erst 1997 begann die Psychologin Elaine Aron, das Phänomen gezielt zu untersuchen. Mit ihren Büchern „Sind Sie hochsensibel?“ und „Das hochsensible Kind“ prägte sie den Begriff. Auch sich selbst und eines ihrer Kinder bezeichnet Aron als hochsensibel. Aber was genau ist damit eigentlich gemeint?
Stellen wir uns vor, unser Gehirn hat einen Filter eingebaut. Dieser Filter sortiert, welche Geräusche, Düfte, Alltagswahrnehmungen wichtig sind und zu uns durchdringen. Eine sehr praktische Einrichtung. Bei hochsensiblen Menschen funktioniert diese Filterfunktion allerdings nur eingeschränkt. Das heißt, auf sie strömen viel mehr äußere Reize ein als auf andere Menschen. Dadurch nehmen sie ihre Umwelt intensiver wahr – leiden aber auch schneller unter Reizüberflutung. Das endet bei Kindern mal in Wutanfällen und aggressivem Verhalten, mal in Tränen und bewusstem Rückzug.
Der Begriff ist zwar neu, aber hochsensible Erwachsene und Kinder gab es natürlich auch früher schon. Es gibt aber die Theorie, dass hochsensible Menschen heute mehr auffallen, weil sie viel mehr Reizen ausgesetzt sind. Man nehme nur die Dauerberieselung durch Medien.
Haben Sie den Verdacht, ihr Kind könnte hochsensibel sein? Dann kann Ihnen dieser Fragebogen bei der Einschätzung helfen.
Oft werden hochsensible Kinder als quengelig oder schüchtern abgestempelt, das wird dem Spektrum des Begriffs aber bei weitem nicht gerecht.
Und wie genau äußert sich die Hochsensibilität?
Das Kind klagt über ein kratzendes Etikett im Pulli, es nörgelt über einen Minirest Apfelschale oder bemerkt einen seltsamen Geruch, der sonst niemanden stört. Laute Musik oder Lärm im Klassenzimmer machen ihm zu schaffen. Das Essen ist zu scharf, der Raum zu kalt. Kurz: Es scheint alles viel intensiver wahrzunehmen als andere Kinder in seinem Alter. Auch das Schmerzempfinden ist bei hochsensiblen Kindern stärker ausgeprägt.
Meist schlafen diese Kinder schlecht und sind heikle Esser, die nur zu bestimmten Lebensmitteln greifen und ablehnen, was sie nicht kennen. Bei Mannschaftssportarten fühlen sie sich oft unwohl. Und auch Ausflüge oder Geburtstagsfeiern können für sie zur Belastung werden. Insgesamt spielen sie lieber für sich und nehmen eine Beobachterrolle ein. Meist haben sie wenige, aber gute Freunde, die sie sehr schätzen.
Die deutsche Psychologin Sylvia Harke bezeichnet hochsensible Kinder als „Fühler-Wesen“. Wie Schmetterlinge hätten sie Fühler, mit denen sie feinste Schwingungen aus ihrem Umfeld wahrnehmen. „Genauso wie ein Schmetterling Schaden nimmt, wenn er am Flügel zu grob berührt wird, brauchen hochsensible Kinder zarte Berührungen“, schreibt Harke in ihrem Ratgeber „Hochsensibel ist mehr als zartbesaitet“.
Hochsensible Kinder fühlen sich schnell gestresst. Tobsuchtsanfälle können die Folge sein. Andere werden ganz still oder klagen über Bauch- oder Kopfschmerzen. Sie brauchen Zeit und Ruhe, um sich von den ganzen Sinneseindrücken zu erholen.
Natürlich können die oben beschriebenen Beispiele nur einen kleinen Ausschnitt darstellen. Die Hochsensibilität kann von Kind zu Kind ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Elaine Aron stellt zum Beispiel fest, dass zwar die meisten hochsensiblen Menschen introvertiert sind, es aber auch extrovertierte Menschen mit diesen Wesenszügen gibt.
Ist das nicht einfach nur eine Modeerscheinung?
Tatsächlich gibt es Experten, die Hochsensibilität für einen übertriebenen Hype halten. Viele etablierten Ärzte, Lehrer oder Psychologen werden zunächst vielleicht mit Unverständnis reagieren. Denn in ihrem Studium haben sie nichts davon gehört und auch in ihrer täglichen Praxis war Hochsensibilität lange Zeit kein Thema. Die bereits erwähnte Psychologin Elaine Aron hat selbst mehrere Studien durchgeführt und die Erforschung der Hochsensibilität angestoßen. In Deutschland beschäftigt sich unter anderem die Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg mit dem Phänomen. Trotzdem ist weitere Forschung notwendig, um die Anerkennung von Hochsensibilität zu erhöhen.
Wie gehen wir mit hochsensiblen Kindern im Alltag um?
Elaine Aron betont besonders die Rolle der Eltern. „Die elterliche Erziehung entscheidet darüber, ob der Ausdruck von Sensibilität ein Vorteil oder eine Quelle der Angst bedeutet“, schreibt sie in „Das hochsensible Kind“. Und stimmt die Familien ein: „Um ein außergewöhnliches Kind großzuziehen, muss man bereit sein, sich auf ein außergewöhnliches Kind einzulassen.“
Es ist gut möglich, dass ein hochsensibles Kind zunächst ohne größere Probleme in seiner Familie aufwächst. Oft treten Herausforderungen erst auf, wenn das Kind seine vertraute Umgebung, sein behütetes Umfeld zum ersten Mal bewusst und länger verlässt: Nämlich dann, wenn das Kind in die Kita oder den Kindergarten kommt. Dort ist es einer ganz anderen Fülle von Reizen ausgesetzt und die Eltern als Anker fehlen. Bei der morgendlichen Trennung oder schon vorher beim Anziehen fließen bittere Tränen, der sonst sprudelnde Wortstrom versiegt. Die Teilnahme am Gruppengeschehen mit den anderen Kindern, wird zur scheinbar unlösbaren Aufgabe.
Erzieherinnen und Erzieher können vieles auffangen. Dabei hilft es, wenn den Eltern selbst bewusst ist, welche Bedürfnisse ihr Kind hat. Ob es beispielsweise sehr lärmempfindlich ist oder mehr Pausen braucht.
Je chaotischer die „Welt da draußen“ auf das Kind wirkt, desto wichtiger ist es, ihm zu Hause einen sicheren Ort zum Krafttanken zu bieten. Wer im Alltag feste Regeln und Rituale etabliert, gibt dem Kind mit diesen Strukturen Sicherheit. Dazu gehört auch der Mut, manche Freizeitaktivität am Nachmittag zu streichen. Denn oft sind hochsensible Kinder nach dem Kitabesuch emotional ausgepowert und eine Erholungsphase tut ihnen gut. Sie beschäftigen sich lieber eine Weile für sich, spielen mit Bausteinen, puzzeln oder lesen.
Wie weiter oben geschrieben, prasseln auf Hochsensible ohnehin sehr viele Reize ein. Familien können überlegen, inwieweit sie die Dauerbeschallung zu Hause reduzieren können. Zum Beispiel weniger Spielzeug, weniger Fernsehen, weniger Besuch.
Hochsensible Kinder stören sich oft an Dingen, die ihren Eltern als Kleinigkeiten erscheinen. Da gibt es großes Geschrei nach einem leichten Sturz, da juckt plötzlich der Lieblingspulli, den das Kind bisher immer gerne angezogen hat. Auch wenn es schwerfällt, sollte man versuchen, die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass es eine andere Wahrnehmung hat als man selbst.
Bei all dem gilt: Niemand muss sein Kind in Watte packen. Und es wird immer wieder Situationen der Überforderung geben. Das ist auch in Ordnung. Denn nur so kann das Kind lernen, mit solchen Situationen und seinen Gefühlen umzugehen.
Hochsensibilität als Stärke
Hochsensibilität bringt einige ganz wunderbare Eigenschaften mit sich. Hochsensible Menschen können sich sehr gut in andere hineinversetzen. Sie gelten als sehr kreativ und haben eine lebhafte Fantasie. Aufgaben erledigen sie gewissenhaft. Im Alltag handeln sie umsichtig und halten sich an Regeln. Gleichzeitig werden hochsensible Kinder oft als kleine Philosophen beschrieben. Sie sind tiefgründig und denken über große Themen wie Leben, Tod oder Umwelt nach. Ihr Wortschatz und ihre Ausdrucksfähigkeit stechen im Vergleich zu Gleichaltrigen hervor. Oft haben sie auch einen besonders guten Zugang zu Tieren.
Später werden hochsensible Kinder vielleicht Krankenschwester, Lehrer, Maler, Anwalt oder Ingenieur. Das sind Beispiele für Berufe, die den Stärken und Veranlagungen von Hochsensiblen entgegenkommen.
Wo finden Familien Hilfe?
Zunächst: Wer hochsensibel ist, braucht deswegen keine Therapie, denn es handelt sich nicht um eine Krankheit. Trotzdem können sich Familien nach Hilfe sehnen: Wenn das Kind mit der Einschulung überfordert ist, wenn es unter seinem „Anderssein“ leidet, wenn es ständig über Bauch- und Kopfschmerzen unklarer Ursache klagt.
Rat und Unterstützung bietet zum Beispiel „Aurum Cordis“, ein Zentrum für hochsensible Menschen, das über ein Netzwerk aus erfahrenen Ärzten, Therapeuten und Coaches verfügt.
Auch das Netzwerk Hochsensibilität kann bei der Suche nach Ansprechpartnern in der Nähe helfen.
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