Eltern kennen es: plötzlich eskaliert eine Situation und ehe man es sich versieht liegt das Kleinkind schreiend und tobend auf dem Boden. Selbst überrascht und vielleicht auch etwas beschämt rattert das Elternhirn auf Hochtouren. Wie löse ich kindliche Wutanfälle für alle Beteiligten schnellst- und vor allem bestmöglich?
Neulich war wieder so ein Tag. Es fing an, dass der Sohn mit der Stirn auf eine Duplo-Kuh fiel und die Wunde beim Kinderarzt geklebt werden musste. Daraufhin durfte er für den Tag zuhause bleiben, was er prinzipiell sehr genießt. Die Aufmerksamkeit der Eltern, ohne dass die kleine Schwester dazwischenfunkt.
Doch irgendwie lief es einfach nicht rund. Beim Mittagessen waren noch drei Stücke vom Quesadilla übrig. Er wollte sie alle noch haben, also sagte ich, dass ich mir noch einen mache. Kaum in der Küche und der Quesadilla in der Pfanne, laute Rufe vom Esstisch „Nein, nicht noch einen Quesadilla machen, ich habe dir schon ein Stück abgegeben“. Auf meine Antwort, dass das nun zu spät ist und der Quesadilla schon in der Pfanne – Tränenausbruch. Es folgte Wut und Rufe, dass ich es „zurück“ machen soll.
Ähnliche Situationen wiederholten sich noch mehrfach über den Tag verteilt. Die Toilette schon gespült, aber sie sollte noch nicht gespült sein. Die Hände schon gewaschen, aber sie sollten noch schmutzig sein. Liebevoll versuchte ich ihm das Konzept des „Point of no return“ zu erklären – der Zeitpunkt, an dem man eine Handlung einfach nicht mehr ungeschehen machen kann.
Wie kommt es zu kindlichen Wutanfällen?
Der Höhepunkt folgte am frühen Abend. Auf dem Weg zur Kita, um die kleine Schwester abzuholen, schlief er im Lastenrad ein. Danach befand sich die Stimmung eh schon auf einem Tiefpunkt. Als wir wieder zuhause angekommen waren, bemerkte mein Sohn zurecht, dass wir vergessen hatten zur Buchhandlung zu gehen und das lange versprochene Einhornbuch zu kaufen.
Also gingen wir nochmal los. In der Buchhandlung stellte uns die Verkäuferin zwei verschiedene Einhornbücher vor. Ich lies meinen Dreijährigen entscheiden welches Buch er haben möchte. Nachdem er sich für ein Buch entschieden hatte, erklärte ich ihm die Konsequenz, dass er dann das andere Buch nicht haben könne und frage noch einmal ob er sicher sei, dass dies das Buch ist, das er möchte.
Die Antwort lautete „Ja“. Kaum bezahlt und das Buch eingepackt kam der Sinneswandel. Er möchte das andere Buch, wir sollen es tauschen. Kurz vor Ladenschluss mit Kleinkind und Laufrad, Baby im Kinderwagen in einer viel zu kleinen Buchhandlung war ich nicht bereit das Buch nun nochmal umzutauschen. Vor allem, weil nicht garantiert war, dass sich das Ganze dann mit dem neuen Buch nicht nochmal wiederholt.
Deshalb erklärte ich ihm ruhig, dass wir das Buch nun nicht mehr umtauschen. Er könne sich aber das andere zu einem späteren Zeitpunkt wünschen. Das zog noch lauteres Geschrei und Tränen mit sich, dass er es jetzt wolle und nicht später.
Unter den Blicken der Verkäuferin, schwitzend mit dem Sohn auf dem Arm und den Kinderwagen durch die schmale Tür rangierend, ging ich zunächst auf die Straße. Wieder und wieder versuchte ich meinem Sohn klarzumachen, dass wir das Buch nicht umtauschen.
Aber er wehrte sich mit aller Kraft, riss sich los, rannte wieder in die Buchhandlung um – ja, was zu tun? Er lag also in der Buchhandlung auf dem Boden und weinte. Ich ging wieder hinein, trug ihn wieder hinaus. Draußen fing währenddessen meine Tochter im Wagen an zu zetern.
Nachdem ich meinen Sohn mehrere Meter getragen hatte, machte ich ihm den Vorschlag, dass wir das Buch zunächst einmal zuhause anschauen und wenn es ihm ganz und gar nicht gefällt, könnten wir es nochmal umtauschen. Ich glaube der Vorschlag wurde nur akzeptiert, weil just in diesem Moment eine Erzieherin aus der Kita zufälligerweise des Weges kam und mein Sohn so überrascht war, dass er seinen Ärger vergaß.
Abends, nachdem wir das Buch gelesen hatten sagte er „Ich liebe dieses Buch überhaupt nicht. Du sollst es umtauschen.“
Was schließe ich für mich aus dieser Situation?
Kindliche Wutanfälle oder besser formuliert Gefühlsausbrüche sind normal und gehören zur gesunden Entwicklung unserer Kinder dazu. Dennoch erwischen sie uns oft unvorbereitet. Oder wenn wir selbst nicht in der besten Verfassung sind um unser Kind liebevoll durch diesen Ausbruch der Gefühle zu begleiten.
Mein erstes Gefühl in dieser Situation war, wie undankbar mein Sohn doch ist. Ich gehe extra nochmal mit ihm los um ihm ein Buch zu kaufen, lasse ihn entscheiden und dann macht er so einen Aufstand. Zu meiner Schande muss ich auch gestehen, dass ich an einem Punkt dieses Ausbruchs auch genervt gesagt habe „gleich gebe ich das Buch ganz zurück und wir kaufen gar keines“.
Dann aber beruhigte ich mich und machte mir klar, dass es nicht um das Buch geht, sondern mein Sohn im Moment einfach überfordert ist. Er ist müde, vielleicht hungrig oder er kämpft mit einem anderen unbefriedigten Bedürfnis.
Was hilft bei einem Wutanfall?
Umgebung ausblenden
Als erstes: die Umgebung ausblenden. Die Buchhändlerin, die anderen Eltern auf der Straße, die Rentner im Café, die Wartenden vor dem Waschsalon. Jeder beobachtet einen, wenn das Kind plötzlich in voller Lautstärke losbrüllt. Und jeder hat eine Meinung, wie mit der Situation umzugehen sei. Eltern schauen meist mitleidig wissend, ältere Menschen kommentieren oft, dass man doch mal durchgreifen müsse und das alles setzt einen zusätzlich unter Druck.
Deshalb: Versuche deine Umgebung zu ignorieren und konzentriere dich ganz auf dich und dein Kind.
Tief durchatmen
Vielleicht kannst du die Situation nicht so leicht lösen, aber du kannst versuchen selbst möglichst ruhig und gelassen zu bleiben. Atme tief durch, mach dir bewusst, dass es vielleicht gar nicht an der Sache selbst liegt, sondern an den Umständen und lass dich nicht aus der Ruhe bringen.
Wutanfall liebevoll begleiten
- Da sein: Manchmal macht es Sinn einfach da zu sein. Gerade am Anfang eines Gefühlsausbruchs ist es oft gar nicht möglich zum Kind durchzudringen. Deshalb: einfach da sein, gemeinsam atmen und das Gefühl aushalten.
- Dem Gefühl einen Namen geben: Hilf deinem Kind seinem Gefühl einen Namen zu geben. Sprich ruhig mit ihm Sätze wie „Du bist gerade aber wirklich wütend“. Wenn du nicht sicher weißt, was dein Kind fühlt, formuliere Fragen.
- Verständnis zeigen: Statt Ratschlägen ist es oft besser Verständnis für die Gefühle des Kindes zu zeigen. Das heißt nicht, dass du nachgeben musst und den Willen des Kindes erfüllen.
- Lösungen suchen: Versuche den rationalen Teil des Gehirns deines Kindes zu erreichen, indem du es fragst, was ihm helfen würde
- Verletzungen vermeiden: Außer Frage steht, dass die Sicherheit des Kindes während eines Gefühlsausbruchs vorgeht. Wenn also Gefahr besteht, dass es sich oder andere verletzt, ist Grenzen setzen durchaus angebracht.
Was hat mir geholfen?
Was mir geholfen hat, kindliche Wutanfälle bzw. Gefühlsausbrüche besser einzuordnen und mein Reaktion entsprechend anzupassen, war das Buch „Erziehen ohne Schimpfen“ von Nicola Schmidt sowie der dazugehörige, super aufgebaute Online-Kurs.
Hier findest du viele Tipps und Übungen wie du es schaffen kannst, dein Kind gelassen und liebevoll zu begleiten. Auf ihrem Instagram-Account findest du ebenfalls viele Tipps für den Alltag mit Kindern und den Umgang mit schwierigen Situationen.
Fünf Fragen an Nicola Schmidt
Im Interview habe ich Nicola Schmidt um ihren Rat gebeten:
Was wäre dein Tipp für die beschriebene Situation?
Was du mit „Umgebung ausblenden“ beschreibst, nenne ich den sozialen Druck abschalten. Der Homo Sapiens ist ein Gruppentier, das heißt wir wollen nicht anecken, wir wollen konform mit der Gruppe sein, deshalb löst der soziale Druck einen enormen Stress in uns aus. Mein Ausweg aus einer solchen Situation ist die „Flucht nach vorne“. Was heißt das? Mit den Leuten in der Umgebung in Kontakt treten.
Zum Beispiel die Buchhändlerin ansprechen „das tut mir total leid, Sie wollen den Laden zumachen und das ist jetzt vollkommen der falsche Zeitpunkt, dass so ein Kind ausflippt“ oder zu umstehenden Menschen „Oh je, das ist laut, wenn der grad so schreit, oder?“ – in der Regel reagieren die Leute mit Verständnis oder Mitgefühl, was den Druck von dir als Elternteil nimmt. Weiterhin hilft es unser Gehirn wieder einzuschalten.
Es fühlt sich an wie eine Notsituation, aber es ist keine. Auch wenn unser Gehirn denkt, die Welt geht unter, sie geht nicht unter.
Ist es denn empfehlenswert Situationen mit wahrscheinlichem Konfliktpotenzial zu meiden?
Es kommt darauf an, was kannst du wann besser abfangen. Wenn ich weiß, es kann sein, dass mein Kind in der Buchhandlung einen Ausraster kriegt und ich kriege dadurch sozialen Druck, dann halte ich lieber den Ausraster im Hausflur aus, wenn ich dem Kind sage, wir gehen nicht mehr los.
Wenn ich weiß, die Buchhändlerin ist ein total netter Typ und vielleicht geht es ja gut, dann würde ich gehen. Ich persönlich bin ein Risiko-Typ, das heißt ich wäre gegangen.
Generell wenn ich merke mein Kind ist am Limit, dann ist es allerdings gut den Ausraster noch vor dem Abendessen zu haben, weil dann ist der Druck raus. Der Druck muss irgendwann raus, insofern besser vor dem Essen, dann hat man noch einen ruhigen Abend.
Wie steht es um das Thema Ablenkung? Das war in unserer Situation ja in letzter Instanz der Schlüssel zur Lösung.
Das Dorf, ja. Da war es wieder [Anm. d. Red.: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“]. Ablenkung führt dazu, dass das Kind einen anderen Impuls kriegt und der Stress im Gehirn überlagert wird. Deshalb gibt es viele Kulturen, die Dreijährige immer ablenken, wenn eine Situation zu eskalieren droht, weil sie sagen, das ist das beste, was man machen kann.
Ist es denn sinnvoll ein Kind immer abzulenken oder kommt der Lernprozess mit Frustration umzugehen dann zu kurz?
Mal ganz ehrlich, schafft man es immer ein Kind abzulenken? Es gibt ein ganz breites Spektrum zwischen, immer wenn das Kind droht einen Anfall zu kriegen, kriegt es ein Bonbon und ich versuche ihm während eines Anfalls einen anderen Impuls zu geben.
Es ist nichts besser oder schlechter daran das Kind abzulenken oder es durch seinen Ausbruch zu begleiten. Ich muss das auch für mich als Mutter entscheiden, halte ich das aus? Kann ich mein Kind jetzt gerade durch einen Anfall begleiten oder versuche ich es mit Ablenkung?
Was ist dein ultimativer Tipp für Eltern, um auch in stressigsten Situationen Ruhe zu bewahren?
Naja [lacht], du kennst ja mein Buch. Wenn wir es nicht schaffen Ruhe zu bewahren, haben wir zwei Stunden vorher den Fehler gemacht und nicht auf unseren Körper und seine Warnsignale geachtet. Mein ultimativer Tipp ist: Lernt achtsam mit euren Energiepegel umzugehen. Eigentlich ist der Trick, mich nicht in die Überforderungssituation zu manövrieren.
Fazit
Oftmals ist die Situation zwar der Auslöser, aber nicht der tieferliegende Grund. Das sollten wir uns als Eltern bewusst machen, damit wir weiterhin liebevoll und zugewandt auf das Verhalten unseres Kindes reagieren können. Das mag vielleicht trotz allem Verständnis nicht gelingen, aber wir können daran arbeiten. Auch wir wachsen mit unseren Herausforderungen und beim nächsten Mal klappt es vielleicht schon besser.
Und wie ging es mit dem ungeliebten Buch weiter? Ich habe es nicht zurück gegeben, denn mittlerweile wird es regelmäßig und gerne gelesen.