Es war einmal… eine böse Stiefmutter, eine hinterlistige Hexe (Kinderfresserin!), ein grausamer Wolf. Märchen handeln oft von Gut und Böse und kommen mitunter ziemlich brutal daher. Die Stiefmutter tanzt sich in glühenden Schuhen zu Tode (Schneewittchen), die Hexe verbrennt im Ofen (Hänsel und Gretel), dem Wolf wird der Bauch aufgeschnitten (Rotkäppchen). Kann man das seinen Kindern guten Gewissens vorlesen?
Zauber aus Kindertagen
Vor einer Weile habe ich bei meinen Eltern mein völlig zerlesenes Märchenbuch aus Kindertagen entdeckt. Auch heute noch blättere ich verzückt durch die schönen Illustrationen, die ich sicher hunderte Male betrachtet habe. Die Geschichten erschienen mir als Kind nie besonders grausam. Anders als jetzt, wenn ich sie aus Mama-Sicht lese. Zwar sind die Märchen im Kinderbuch abgeschwächt, enthalten nicht alle verstörenden Details wie in den alten Texten der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Trotzdem enden sie oft mit dem Tod eines Bösewichts oder schweren Strafen. Sollten wir das nicht eher fernhalten von unseren Kindern?
Was die Kinderpsychologin sagt
Die Wiener Kinderpsychologin Dagmar Zahradnik argumentiert in der österreichischen Tageszeitung Der Standard, dass Märchen zeitlose Werte wie einen Sinn für Gerechtigkeit und Selbstvertrauen vermitteln. Kinder profitieren ihr zufolge von den charakteristischen Merkmalen in den traditionellen Geschichten. In Märchen siegt das Gute über das Böse. Das Gute wird belohnt – Aschenputtel heiratet ihren Prinzen. Das Böse wird bestraft – die Stiefschwestern hacken sich Ferse und Zehen ab. In ausweglosen Situationen tauchen ein oder mehrere Retter auf – die sieben Zwerge bieten Schneewittchen Schutz. Dagmar Zahradnik schreibt: „Durch diese wiederkehrenden inhaltlichen Muster wird vermittelt, dass mit Mut, Stärke und mit der Hilfe anderer eine vermeintlich ausweglose Situation gemeistert werden kann. Kinder lernen so, sich selbst und anderen zu vertrauen.“
Auch was die Brutalität der Märchen angeht, beschwichtigt sie: „Die Grausamkeit, die Erwachsene in die Märchengeschichten interpretieren, nehmen Kinder nicht so ausgeprägt wahr.“ Wenn Gretel die Hexe in den Ofen schubst, sehen sie darin eine gerechte Strafe. Dagmar Zahradnik erklärt weiter, dass Kinder sich mit den eigenen Ängsten auseinandersetzen, die Märchen auslösen. Etwa wenn Hänsel und Gretel von ihren Eltern allein im Wald zurückgelassen werden – eine wirklich schlimme Vorstellung für ein Kind. „Wenn sich nach all den angsterfüllten Gedanken dann ein gutes Ende darbietet, ist dies ein Erfolgserlebnis für das Kind.“
Das meint der Hirnforscher
Der Neurobiologe Gerald Hüther bezeichnet Märchen als „Zaubermittel“ und „Superdoping“ fürs Gehirn. Auch er ist der Auffassung, dass Märchen Kindern helfen, mit Gefühlen wie Angst, Wut oder Trauer umzugehen. Märchen zeigten „das ganze Spektrum der Abgründe des menschlichen Daseins“ auf, erläutert er in einem Interview in der Zeitschrift Märchenforum.
Obwohl sich der Held oder die Heldin in einer schwierigen bis ausweglosen Situation befindet, nimmt die Geschichte schließlich ein gutes Ende. „Damit werden unsere Kinder mit der wichtigsten Ressource zur Bewältigung von Angst und Stress im späteren Leben ausgestattet, nämlich mit der festen Überzeugung, dass man in dieser Welt gehalten ist, dass es immer wieder Helfer geben wird, die zu Hilfe kommen. Oder es wird auch Möglichkeiten in einem selbst geben, die man noch gar nicht entdeckt hat und die man einsetzen kann.“
Für Gerald Hüther ist allerdings wichtig, wie Märchen vermittelt werden. Für ihn steht die Atmosphäre im Vordergrund, die beim Vorlesen oder Erzählen entsteht. Er beschreibt das mit einer Szene, in der ein Kind auf dem Schoß des Großvaters vorm Kamin sitzt und ein Märchen erzählt bekommt. „Die Märchen verdichten sich zu der großen Aussage ‚es wird wieder gut‘. Und diese Aussage verdichtet sich wiederum im Bild des kleinen Kindes auf dem Schoss des Großvaters. Dieses Bild ist letztlich der Träger des Gefühls ‚es wird wieder gut‘.“ Sprich: Es ist nicht dasselbe, wenn wir Kinder allein vor ein Märchen-Hörspiel setzen. Erst das gemeinsame Erleben macht die Geschichte aus Hüthers Sicht wertvoll.
Wie alt sollte das Kind sein?
Meistens werden Märchen erst ab einem Alter von vier Jahren empfohlen. Dann kann man mit Klassikern wie Rotkäppchen, den Bremer Stadtmusikanten oder Hänsel und Gretel beginnen. Diese Altersangabe wird in der Regel damit verknüpft, dass Kinder in der Lage seien sollten, länger stillzusitzen und der Handlung zu folgen. Kleine Bücherfans sind also vielleicht schon früher für die Geschichten bereit, andere Kinder erst später. Es müssen für den Anfang auch keine Grimm’schen Märchen sein. Unser Kleiner hat schon früh die Geschichte vom dicken, fetten Pfannkuchen geliebt. Es gibt auch sehr hübsche Märchen-Wimmelbücher für die Kleinsten, anhand derer sich gut eine einfache Kurzversion der Märchen erzählen lässt.
Schöne Prinzessin, böse Stiefmutter – Rollenbilder in Märchen
Was aber ist mit den Rollenbildern, die Märchen vermitteln? Da sind Prinzessinnen und andere Heldinnen meist gut und schön. Sie werden – ungefragt – von Prinzen geküsst. Das größte Glück: eine baldige Heirat mit dem Königssohn. Männer sind mutig und stark. Stiefmütter böse. Als die Grimm’schen Märchen zusammengetragen wurden, war die Lebensrealität eine völlig andere als heute. Homosexualität oder People of Colour wird man in den klassischen Märchen vergeblich suchen.
Kritische Stellen ändern
Der Infobrief KiDs aktuell des Berliner „Instituts für den Situationsansatz“, das sich unter anderem für eine diskriminierungsfreie Medienbildung einsetzt, beschäftigt sich in einer Ausgabe mit Märchen und gibt Anregungen für den Umgang mit schwierigen Darstellungen.
Empfohlen wird etwa, problematische Textstellen wegzulassen oder abzuändern. Ein Beispiel macht das deutlich. In einer Version des Froschkönigs heißt es abwertend: „Das Mädchen freilich gefiel dem Froschkönig überhaupt nicht, denn sie war nicht besonders schön. Sie hatte zu kurze Beine, war auch etwas zu dick und ihre Haare waren wie Stroh.“ Beim Kind könnte dadurch der Eindruck entstehen, es sei unbedingt wichtig, schön zu sein. Stattdessen könnte man neutraler vorlesen: „Das Mädchen gefiel dem Froschkönig nicht, denn sie war irgendwie nicht sein Typ.“
Geschlechtertausch – Rotkäppchen wird zur Rotmütze
Wenn Kinder eine Geschichte schon gut kennen, kann es spannend sein, mal die Geschlechter zu vertauschen. Das Rotkäppchen wird beispielsweise zur Rotmütze, die Großmutter zum Großvater – plötzlich ist auch die Wirkung eine ganz andere.
Und wenn sie nicht gestorben sind….
Keine Bange, nicht alles an den alten Erzählungen ist schlecht. Es liegt auch an den Eltern, mit den Kindern über Problematisches zu sprechen – natürlich sind die meisten Stiefmütter total nett und nein, wir schubsen böse Menschen nicht in den Ofen, sondern rufen die Polizei – und Positives hervorzuheben. Etwa die mutige Gretel, die einen kühlen Kopf bewahrt, und ihren Bruder Hänsel rettet. Und die Geschichte von Hans im Glück kann man zwar als Geschichte eines Dummkopfs lesen, der all seine Habe hergibt. Man kann sie aber auch so verstehen, dass es auf Besitz allein nicht ankommt, weil der am Ende eben nicht glücklich macht.
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