Als Eltern kommt man um den Namen Emmi Pikler kaum herum. Auf die Kinderärztin gehen viele pädagogische Ansätze, Bewegungsgeräte und auch der SpielRaum zurück. Noch nie vom SpielRaum gehört? Hinter dem schönen Wort steckt ein spannendes Konzept, das sich in vielen Punkten von anderen Krabbeltreffs und Babykursen unterscheidet. Angeboten werden sie vielerorts in Deutschland. Wir haben mit SpielRaum-Leiterin und Diplom-Pädagogin Tanja Knoke aus Stuttgart gesprochen.
Frau Knoke, was wird denn im SpielRaum gespielt?
Im SpielRaum geht es darum, die Eigeninitiative und das Selbstlernen der Kinder zu fördern. Das bedeutet, die Kinder werden nicht von außen bespaßt oder bespielt, sondern entwickeln selbst Ideen. Sie sind selbst dafür verantwortlich, eine Beschäftigung zu suchen und zu entdecken. Dabei sollen sie sich ganz aufs Spiel konzentrieren können, ohne dass Erwachsene immer intervenieren. Emmi Pikler zufolge ist das freie Spiel die Hochschule der Säuglinge und Kleinkinder. Oder wie es Maria Montessori gesagt hat: Das Spiel ist die Arbeit der Kinder. Das sollte man auch entsprechend würdigen.
Das klingt fast, als würden Eltern das Spiel ihrer Kinder eher stören.
Es ist ja so: Von außen kann man gar nicht wissen, was gerade das Interesse des Kindes oder sein momentaner Lernauftrag ist. Da wird oft vorweggegriffen. Etwa indem Eltern Türme bauen, obwohl das Kind noch gar nicht so weit ist, selbst Türme zu bauen. Es räumt vielleicht gerade lieber Dinge ab. Das trifft übrigens nicht nur auf das Spiel zu, sondern auch auf die freie Bewegungsentwicklung.
Inwiefern?
Kinder sollten immer nur in Positionen gebracht werden, die sie von sich aus erreichen können. Sie erarbeiten sich die gesamte Bewegungsentwicklung, ohne dass Eltern sie aufsetzen müssen, bevor sie überhaupt sitzen können, oder sie an den Händen führen, bevor sie richtig stehen können. Emmi Pikler wunderte sich, dass Kinder immer etwas tun sollen, was sie eigentlich noch gar nicht können. Nie lässt man sie in der Position, die sie gerade gelernt haben. Warum eigentlich? Warum sollen Kinder so schnell wie möglich laufen lernen? Man läuft noch 90 Jahre in seinem Leben. Da darf man sich ruhig ein bisschen Zeit lassen.
Sollen Eltern denn überhaupt nicht mit ihren Kindern spielen?
Natürlich braucht es Zeiten, wo man sich dem Kind zuwendet und mit ihm spielt. Wo man miteinander kuschelt, singt oder ein Buch liest. Aber viele Eltern meinen heute, Kinder müssen die ganze Zeit bespielt werden und können alleine nichts mit sich anfangen. Ich höre oft Sätze wie: Ich komme zu gar nichts mehr. Ich muss die ganze Zeit mit meinem Kind spielen. Oder: Ich kann mein Kind gar nicht absetzen, dann fängt es sofort an zu weinen und ich muss es hochnehmen und tragen. Da kann man aus meiner Sicht entgegenwirken und den Eltern zeigen, dass Kinder sich eben doch eine Weile gut selbst beschäftigen können – wenn man es ihnen zutraut.
Tanja Knoke hat in Berlin Erziehungswissenschaften studiert. Sie arbeitete in Brandenburg in der Lehrerfortbildung und hat später eine Ausbildung als Walddorflehrerin gemacht. Als sie mit ihrer Tochter schwanger war, setzte sie sich mit der Arbeit von Emmi Pikler auseinander. So stieß sie auf die SpielRäume und bildete sich entsprechend fort. Inzwischen leitet sie seit 23 Jahren SpielRaum-Gruppen und führt eine Praxis für Erziehungsberatung in Stuttgart.
Wenn das freie Spiel am besten für das Kind ist, wozu braucht es dann den SpielRaum?
Es geht letztendlich darum, Eltern zu zeigen, wie ihre Kinder alleine spielen können. Der SpielRaum ist ein Rahmen, in dem Eltern erleben: Ah, mein Kind kann sich ganz alleine fast eine Stunde beschäftigen. Das zu erleben, hilft Eltern. Dann können sie auch zu Hause einen Rahmen schaffen, in dem sich Kinder alleine entwickeln können.
Außerdem erhalten Eltern auch ein paar Informationen zur Entwicklung des Kindes. In meinen Kursen ist die erste Dreiviertelstunde dafür da, die Kinder zu beobachten und wahrzunehmen. In der letzten Viertelstunde ist dann Zeit für Fragen. Wir sprechen darüber, was gerade nicht gut läuft, was Bindung bedeutet oder wie sich das Greifen entwickelt.
Zudem schätzen viele Eltern die ruhige, meditative Atmosphäre im SpielRaum. Im Alltag setzt man sich ja selten hin und nimmt sein Kind einfach nur wahr. Daher ist diese Stunde eigentlich ein Geschenk an das Kind.
Fällt Eltern die Beobachterrolle denn schwer?
Das ist unterschiedlich. Vor Kursbeginn gebe ich eine Einführung, daher wissen die Eltern, was auf sie zukommt. Die meisten sagen, dass es die ersten zwei, drei Male ungewohnt war, einfach nur ruhig dazusitzen und zuzuschauen. Aber wenn man erst mal in diesem Zustand von achtsamer Wahrnehmung angekommen ist, kann man den auch genießen.
Schon drei Monate alte Babys können an den SpielRaum-Kursen teilnehmen. Ist das nicht recht früh? Babys in dem Alter spielen ja noch nicht wirklich.
Die Kinder sollen von Anfang an herangeführt werden, selbst nach Spielsachen zu suchen. Die ganz Kleinen sind manchmal noch mit ihren Händen beschäftigt. Andere greifen schon nach einfachen Spielsachen, die ich um sie herumlege. Ein Tuch oder ein Pikler-Ball etwa. Leichte Dinge, mit denen sie die Erfahrung machen: Aha, ich suche mit meiner Hand etwas vom Boden aus, und wenn ich es dann habe, kann ich es erkunden und erforschen. Das ist der Beginn selbstständigen Spiels. Und die Eltern lernen, die Kinder auch mal abzulegen und nicht immer nur in der Trage zu haben. Da beginnt ein Prozess. Und es hilft Kindern tatsächlich, wenn sie merken, sie sind in Gesellschaft anderer Kinder. Auch die Kleinen reagieren schon deutlich darauf.
Was für Spielgeräte bieten Sie Kindern im SpielRaum an?
Bei den Kleinen fängt es an mit Tüchern, einfachen Pikler-Bällen, Holzklammern, Rasseln und klassischen Greiflingen, verschiedene Materialien, aber vor allem aus Holz. Dann kommen Stapeltürme dazu, Steckdinge und Igelbälle, Ringe, Bürsten sowie Bälle. Vieles sind ganz einfache Materialien aus dem Haushalt wie Schneebesen, Dosen, Körbe, Deckel.
Wenn die Kinder anfangen zu krabbeln, gibt es eine Kiste voller Kastanien und dazu Schüsseln, Becher und Flaschen. Es kommen Pikler-Geräte wie das Podest dazu. Das sieht aus wie eine umgedrehte quadratische Schublade. Auf der einen Seite gibt es eine Rampe mit Teppich zum Hochklettern und auf der anderen eine glatte, flache Holzrutsche. Später folgen Autos, Puppen, Puppenwagen, größere Bälle, Bauklötze und Dinge zum Tragen. In einem Krabbeltunnel lernen die Kinder ein bisschen Orientierung. Was ist oben, was unten, wie komme ich vorwärts, wie rückwärts. So lernen sie auch im Alltag eher aufzupassen, was sich über oder neben ihnen befindet.
Ein Kurs umfasst bei Ihnen zwischen zehn und zwölf Termine. Welche Entwicklung beobachten Sie in dieser Zeit?
Gerade ältere Kinder, die vorher vielleicht etwas anderes erfahren haben, müssen erst mal lernen, sich selbst zu strukturieren und ins Spielen zu kommen. Im Laufe des Kurses entwickelt sich eine achtsame Konzentration. Man kann beobachten, wie die Kinder ins Üben kommen. Etwa wenn ein Kind zehn- bis fünfzehnmal in der Stunde immer wieder eine Stufe hoch und runter geht. Da merkt man, die Kinder haben gelernt, sich auf bestimmte Dinge zu fokussieren und dran zu bleiben.
Ein Stück weit bekommen sie auch soziales Verhalten vermittelt. Nicht zu drängeln, nicht zu schieben, vorsichtig und behutsam miteinander umzugehen. Ich begleite das im SpielRaum. Wenn sich zum Beispiel mehrere Kinder am Kletterdreieck drängeln, sage ich: Guck mal, du wartest, und wenn der Jan geklettert ist, dann kannst du.
SpielRaum-Kurse sind oft schnell ausgebucht. Was können Eltern zu Hause selbst ausprobieren?
Ich leihe zum Beispiel auch Pikler-Geräte aus. Damit kann man zu Hause einen kleinen Bewegungsparcours aufbauen. Man hat rausgefunden, dass Kinder, die sich immer wieder zwischendurch bewegen, danach wieder konzentrierter feinmotorisch spielen. In der Pandemie ist auch ein Online-SpielRaum-Kurs mit mehreren Videolektionen entstanden. Dort bekommen Eltern eine Einführung in die verschiedenen Entwicklungsstufen des Babys und erfahren, was man dem Kind an Spielsachen oder Klettergeräten anbieten kann.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit besonders gut?
Mir gefällt die achtsame Stimmung im Raum. Und vor allem auch, mit welcher Begeisterung und Neugier Kinder die Welt entdecken. Die Freude, die sie an den kleinen Dingen haben wie: Hey, ich bin da eben runtergerutscht. Ich finde auch die Arbeit mit den Eltern bereichernd, weil sie in dieser Zeit noch ganz offen für Anregungen und Gespräche sind.
An welche besonderen Erlebnisse erinnern Sie sich?
Erst neulich hatte ich einen schönen Fall. Da stand ein Mädchen unten ganz dicht an der Rutsche. Ich habe gesagt: Wenn du ein Stück weggehst, kannst du gleich die Anna auffangen. Und tatsächlich breitete das Mädchen unten die Arme aus, ganz süß. Dann ist Anna runtergerutscht und wurde quasi in den Arm genommen. Da musste die ganze Runde lächeln und lachen, weil es einfach so herzig war. Das sind so kleine Sternstunden, in denen man merkt, es kommt was bei den Kindern an.
Und ich freue mich natürlich auch, wenn sich bei den Eltern etwas getan hat. Zum Beispiel wenn sie ein intransparentes Verhalten beim Grenzen setzen geändert haben. Da bekommen Kinder oft doppelte Botschaften. Auf der einen Seite werden sie geschimpft, weil sie zum Beispeil einem anderen Kind weh getan, es gehauen haben. Fängt das Kind dann aber an, selbst zu weinen, nehmen es Mama oder Papa wieder auf den Schoß, streicheln und küssen es. So wissen die Kinder am Ende gar nicht, ob ihr Verhalten nun richtig oder falsch war.
Was wäre Ihrer Meinung nach die richtige Reaktion?
Ich würde das Kind auf den Schoß holen und sagen: Ja, ich weiß, ich habe dich geschimpft. Nun bist du vielleicht etwas traurig, aber ich möchte nicht, dass du Jan haust. Punkt. Man sollte dem Kind nicht erlauben, sich zu einer Art Opfer zu machen. Man sollte klar bei seinem Standpunkt bleiben und es auch physisch daran hindern, noch mal zu dem anderen Kind hinzugehen. Besser sagt man: Du bist jetzt kurz bei mir auf dem Schoss und dann darfst du wieder los. Wenn Eltern verstanden haben, was sie mit ihrem Verhalten auslösen, können sie klarer werden in ihrer Haltung. Das ist dann für mich auch ein beglückender Moment.
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