Gerade noch war die Welt völlig in Ordnung. Plötzlich liegt der Zweijährige auf dem Boden, schreit, tobt, wütet. Willkommen in der Trotzphase! Oder besser: In der Autonomiephase. Denn das Wort Trotz ist negativ behaftet. Es klingt, als würden Kinder ihren Eltern bewusst das Leben schwer machen. Dabei geht ihr Verhalten mit einem wichtigen Entwicklungsschritt einher. Warum Kinder in einem bestimmten Alter besonders häufig Wutanfälle bekommen und wie Eltern darauf reagieren können, lest ihr in diesem Beitrag.
Vom Kind zum Wutzwerg
Ich erinnere mich noch gut an folgende Situation in der Küche. Es muss um den dritten Geburtstag meines Sohnes gewesen sein. Zum Abendessen hatte ich gekochte Eier versprochen. Die liebt er. Leider fanden sich im Kühlschrank nur noch braune Eier. Er wollte aber ein weißes. Den Wutanfall, der darauf folgte, können sich wohl nur Eltern ausmalen, die ähnliches erlebt haben. Ich hatte keine Chance, ihn in dieser Situation zu beschwichtigen. Kein Argument drang zu ihm durch. Er verzweifelte in diesem Moment an der Welt.
Für Eltern sind die Gründe, warum Kinder aus heiterem Himmel einen Rappel bekommen, oft schwer bis nicht nachvollziehbar. Eine falsch angezogene Socke, das blaue statt dem roten Auto bringen sie aus dem Gleichgewicht und treten einen Sturm der Entrüstung los. Sie schreien ohrenbetäubend, schlagen um sich, werfen mit Sachen.
Es gibt zig Bücher, die sich mit der Trotzphase bzw. Autonomiephase beschäftigen. Allein das zeigt: Eltern von Wutzwergen sind mit diesem Schicksal nicht allein.
Trotzphase/Autonomiephase – was ist da los mit meinem Kind?
Die sogenannte Trotzphase tritt vor allem bei Kindern im Alter von zwei bis drei Jahren auf. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck „Terrible two“. Diese Phase kann aber auch schon mit 18 Monaten beginnen und bis zum sechsten Lebensjahr dauern. Pädagogen sprechen heute lieber von Autonomiephase. Das Wort Autonomie wird dem, was da mit den Kindern passiert, weit besser gerecht.
Die gute Nachricht ist: Unsere Kinder reifen jetzt mehr und mehr zu kleinen Persönlichkeiten. Die schlechte: Das läuft nicht ohne Reibungen ab.
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul, Autor zahlreicher Elternratgeber, weist in „Dein selbstbestimmtes Kind“ auf folgendes hin: „Die erste Selbstständigkeitsphase – oft fälschlicherweise als Trotzphase bezeichnet – ist die erste Möglichkeit des Kindes, sich einen eigenen Raum zu erobern und eine aktivere Beziehung zu seinen Eltern aufzubauen.“
Kinder machen in dieser Zeit einen großen Entwicklungsschritt durch. Sie werden zunehmend selbstbestimmter, denken plötzlich von sich als „ich“, entwickeln einen eigenen Willen. Jetzt hören Eltern oft: „Allein“ oder „Ich will aber!“ Und darin liegt ein gewisses Konfliktpotenzial. Das zeigt sich vor allem dann, wenn Eltern aus guten oder auch mal weniger guten Gründen anderes im Sinn haben als der Nachwuchs. Wenn das Kind zum x.-Mal den Schuh verkehrt anzieht, sich aber partout nicht helfen lassen will. Oder wenn längst Schlafenszeit ist, Sohn oder Tochter sich schon die Augen reiben, aber unbedingt noch spielen wollen. Oder wenn das Kind beim Überqueren der Straße nicht mehr an der Hand gehalten werden will.
Oft können sich vor allem jüngere Kinder in der Autonomiephase sprachlich noch nicht so gut äußern. Sie können auf diesem Kommunikationsweg nicht mitteilen, was sie an der Sockenfarbe stört oder warum sie gerade noch Nudeln mit Soße wollten, jetzt aber die Nudeln pur. Die Enttäuschung, nicht von den Eltern verstanden zu werden, entlädt sich dann nicht selten in einem Wutanfall.
Diplom-Psychologin Doris Heueck-Mauß teilt in „Das Trotzkopfalter“ die interessante Erkenntnis, dass Trotz nie im Streit zwischen Gleichaltrigen auftritt: „Trotziges Verhalten entsteht durch einen Konflikt zwischen kindlichem Wunsch und Willen und den Ansprüchen oder Einschränkungen der Erwachsenen.“
Mit der Entdeckung des eigenen Ichs rücken sich Kinder selbst in den Mittelpunkt. Die ganze Welt dreht sich um sie – das steht für sie sonnenklar fest. Umso enttäuschter sind sie, wenn trotzdem nicht alles nach ihrem Willen läuft. Grenzen müssen sie erst nach und nach kennenlernen.
„Durch Ihre Reaktionen bekommt Ihr Kind ein Gefühl dafür, was erwünscht ist und was nicht“, schreibt Verhaltens-Therapeutin Annette Kast-Zahn in „Gelassen durch die Trotzphase“. „Es versteht ja noch nicht, warum es etwas nicht darf. Erst ab etwa drei Jahren lernt Ihr Kind aus Einsicht. Was richtig und falsch ist und warum, versteht es in den kommenden Lebensjahren nach und nach immer besser.“
Wie können Eltern auf Trotz reagieren – 7 Tipps
1. Gelassen bleiben
Der erste Tipp ist zugleich der schwerste aber auch wirkungsvollste: gelassen bleiben. Oft steigt auch bei Eltern das Stresslevel, wenn das Kind tobt und schreit, womöglich sogar haut oder beißt. Wir lassen uns mit in eine Wutspirale ziehen. Fangen im schlechtesten Fall selbst an, zu schreien. Wichtig zu wissen ist, dass Kinder unsere Gefühle spiegeln. Ruhig zu bleiben, ist ein guter Weg, damit sich das Kind schneller wieder beruhigen kann.
2. Nicht persönlich nehmen
Hilft beim Gelassen bleiben (Tipp 1). Mitunter beschimpfen oder schlagen Kinder ihre Eltern in großer Wut. Dabei richten sich ihre Gefühle im Grunde nicht gegen die Eltern selbst. Der Zorn muss in dem Moment einfach raus.
3. Die Perspektive des Kindes einnehmen
Aus Elternsicht bekommen Kinder oft wegen scheinbar banaler Dinge einen Rappel. Das Kind hat aus seiner Perspektive aber gute Gründe, zornig zu sein. Zeigen Sie Verständnis. Und versuchen Sie erst mal nicht, mit rationalen Argumenten gegenzusteuern. Im Moment des „Kurzschlusses“ sind Kinder dafür nicht empfänglich. Lassen Sie den Sturm vorüberziehen, bevor Sie zu einer Erklärung ansetzen.
4. Trösten
Wir neigen dazu, die emotionale Intelligenz junger Kinder zu überschätzen. „Die Fähigkeit der Wutkontrolle erlernen Kinder erst im Laufe der Zeit“, schreibt Michaeleen Doucleff in ihrem lesenswerten Buch „Kindern mehr zutrauen“. Wohl kaum jemand würde ein offenbar grundlos heulendes Baby anschreien oder ausschimpfen. Intuitiv nehmen wir es in den Arm, versuchen es zu trösten, auch wenn wir den Anlass für den Kummer nicht kennen. Auch der wütende, tobende Zweijährige braucht Halt, kann diesen aber nicht immer sofort annehmen. Manche Kinder beruhigt es, wenn sie im Zornanfall sanft berührt werden. Andere lässt man besser mit etwas Abstand aber in Sichtweite austoben.
5. Nicht zu viel verbieten
Verbote sind dazu da, das Kind vor Gefahren zu schützen (nicht ohne Helm fahren), andere vor dem Verhalten des Kindes (niemanden schlagen) und Dinge vor Schaden zu bewahren (die Tapete wird nicht vollgekritzelt). Das Kind muss lernen, gesetzte Grenzen zu akzeptieren. Sie sollten die Neins aber auf ein Minimum reduzieren und nur dort anbringen, wo es aus Ihrer Sicht wirklich nötig ist. Erklären Sie dabei immer, warum das Kind etwas nicht tun soll.
6. Konsequent bleiben
Bleiben Sie bei Ihren Grenzen und Neins, auch wenn das manchmal ziemlich schwer fallen wird angesichts eines tobenden Wutzwergs. Das Kind sollte merken, dass es Ihnen wirklich ernst ist. Durch Nachgeben wird das Kind in dem Glauben bestärkt, es müsste nur lange genug wüten, um an sein Ziel zu kommen.
7. Wahlmöglichkeiten bieten
Kinder freuen sich, in Entscheidungen miteinbezogen zu werden. So können sie eine Frustrationstoleranz aufbauen. „Wenn es ein bestimmtes Kleidungsstück nicht anziehen will, dann darf das Kind wählen zwischen zwei Hosen, die ihm gefallen, oder wenn es nicht mehr still bei Tisch sitzen will, können Sie es fragen: ‚Möchtest du mit uns am Tisch sitzen bleiben oder schon zum Spielen gehen?’“, rät Doris Heueck-Mauß in „Das Trotzkopfalter“.
Ausraster im Supermarkt, Essensgeschosse und Wut auf andere Kinder – was tun?
Folgende drei Situationen kennt wohl jeder aus dem Familienalltag. Wir haben uns angesehen, was Ratgeber dazu sagen. Klar ist aber: Unsere Kinder sind keine Autos, es gibt keine Betriebsanleitung. Eltern müssen ein Gefühl dafür entwickeln, wie sie Konflikte zusammen mit ihrem Kind am besten lösen. Nicht jeder Tipp passt für jedes Elternteil und für jedes Kind gleich gut.
Das Kind räumt im Supermarkt fröhlich die Regale aus. Im Einkaufswagen landet viel unnötiger Kram. Ein „Nein, wir brauchen das nicht“, wird mit einem lauten Aufheulen quittiert.
Doris Heueck-Mauß: „Das Trotzkopfalter“
Diplom-Psychologin Doris Heueck-Mauß rät dazu, solche Situationen von vorneherein zu entschärfen und Einkäufe mit dem Kind zusammen zu planen. Es kann beispielsweise vereinbart werden, welche Artikel von der Einkaufsliste das Kind holen darf. Und vielleicht darf das Kind auch für sich immer eine Kleinigkeit kaufen, beispielsweise eine Brezel oder ein Stück Obst. „Wenn Sie Ihr Kind auf diese Weise bereits in die Einkaufsplanung miteinbeziehen, wird es sicher freudig mitmachen und dann auch einsehen, wenn Sie bei der dritten Kekstüte sagen: ‚Schau, wir haben schon zwei Packungen im Einkaufswagen.'“
Doris Heueck-Mauß schreibt weiter: „Zu viele Verbote fordern letztlich nur noch mehr Widerstand heraus (…) Wenn Sie Ihr Kind dagegen so oft wie möglich in Ihre Entscheidungen und Alltagshandlungen integrieren und wählen lassen, dann lernt es, besser zu verstehen, was Sie meinen.“
Die Familie sitzt beim Essen. Mit einer energischen Bewegung fegt das Kind Teller und Becher zu Boden und wirft die Nudeln gleich hinterher.
Danielle Graf/Katja Seide: „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch Trotzphasen“
Die Autorinnen erklären das Verhalten unter anderem damit, dass Kinder testen, welche Wirkung ihr Tun hat. „Fällt der Teller tatsächlich immer wieder nach unten?“ „Wie reagieren meine Lieblingsmenschen darauf?“ Außerdem kann das Runterwerfen auch ein Signal sein, dass das Kind satt ist und sich langweilt.
Sie haben drei Tipps für Eltern parat. 1. Echtes Geschirr verwenden (bei dem es nicht schade ist, wenn es kaputt geht). Das Kind erfährt dabei, dass so ein Porzellanteller beim Runterfallen in mehrere Stücke zerspringen kann. 2. Ein anderes Signal einführen. Eltern sollten dem Kind zeigen, wie es signalisieren kann, dass es nichts mehr essen möchte. Statt alles runterzuwerfen, zum Beispiel lieber den Teller auf dem Tisch von sich wegschieben. 3. Beim Gutsein erwischen. Wenn das Kind sich so verhält, wie man es erwartet – zum Beispiel den Löffeln neben dem Teller ablegt anstatt in zu Boden zu befördern – wird dieses Verhalten mit positiven Rückmeldungen verstärkt.
Das Kind hat friedlich mit anderen gespielt. Bis es plötzlich das Auto in der Hand eines anderen Kindes entdeckt und haben möchte. Es haut zu.
Annette Kast-Zahn: „Gelassen durch die Trotzphase“
„Im Alter von zwei Jahren weiß ein Kind noch nicht, dass sich jemand anderer schlecht fühlt, wenn es ihm ans Schienbein tritt, an den Haaren zieht oder ihn in den Finger beißt. Solange ein Kind diesen Zusammenhang noch nicht versteht, kann man ihm keine böse Absicht unterstellen“, schreibt die Autorin. Aber wie richtig reagieren? Annette Kast-Zahn rät, das Kind von seinem „Opfer“ zu trennen und eine Auszeit zu setzen, ihm zu erklären, dass Hauen nicht in Ordnung ist und weh tut. „Auch wenn es noch nicht richtig versteht, was es falsch gemacht hat, lernt es aus Ihrer angemessenen Reaktion.“
Foto oben: Xia Yang/Unsplash